100 Jahre Paulo Freire im Kontext digitaler Lebenswelten.

Paulo Freire steht für eine kritische und ermächtigende Pädagogik, die aus dem Globalen Süden kommt. Im Rahmen der Tagung „100 Jahre Freire – Solidarität in der globalen Gesellschaft“ gestaltete das Paulo Freire Zentrum ein Panel zum Thema „Freire im Kontext digitaler Lebenswelten“. Das Panel war via Livestream auch online zugänglich, und wurde von unserem Redaktionsteam dokumentiert.

Datum: Do., 14. Okt. 2021.
Zeit: 14.00 – 15.30 Uhr.
Ort: Paris Lodron Uni Salzburg & online via Livestream
Dokumentation: Digitalisierung und dialogische Kommunikation: Ein Widerspruch?

Freires Hauptwerk, die „Pädagogik der Unterdrückten“, beginnt mit der Frage nach der Humanisierung:
„Die Humanisierung war zwar in einem grundsätzlichen Sinne schon immer das Zentralproblem des Menschen – heute jedoch hat sie den Charakter einer unabweisbaren Fragestellung gewonnen“. (Freire 1973: 32)

Im Zeitalter der Krisen-Rhetorik ist Humanität mehr gefordert denn ja. Im Kontext der Covid-19-Krise wurde deutlich, wie schnell Schutzmaßnahmen wie das notwendige home office den Charakter der Enthumanisierung tragen können: Dialogische Begegnung wird auf den virtuellen Raum reduziert, die Ich-Du-Beziehung, von der Martin Buber spricht (auf ihn bezieht sich Freires dialogischer Ansatz) wird zur Utopie. Vor diesem Hintergrund soll dieses Panel auf der Freire-Jubiläumstagung einen Beitrag zur kritischen Diskussion dieser Entwicklungen anbieten.

Panel auf der Tagung „Solidarität in der globalen Gesellschaft. Dialog und Befreiung in einer digitalen Zukunft“

Mitwirkende des Panels:

➢ Ulli Vilsmaier (Forscherin zu Inter- und Transdisziplinarität, Lüneburg, Beiratsvorsitzende des Freire Zentrums Wien)
➢ Robert Bichler (Deeper Travel – Verein zur Förderung Globalen Lernens und Interkultureller Kommunikation, Wien/Kathmandu)
➢ Danilo Streck (Freire-Forscher an der Universidade de Caxias do Sul-UCS Brasilien)
➢ Raphael Perret (Medienkünstler, Zürich)
➢ Gerald Faschingeder (Paulo Freire Zentrum, Wien)

Leitfragen des Panels: Kritik der Digitalität

Digitalisierung wird häufig als revolutionär, tiefgreifend, unaufhaltsam und chancenreich beschrieben. Sie wird aber auch seit den Anfängen von einem kritischen Diskurs begleitet. Im Hinblick auf ihre weitreichenden Folgen für das Leben Einzelner wie von Gemeinschaften erscheint es uns daher drängend, den Prozess der Digitalisierung der Lebenswelt einer kritischen Reflexion aus freireanischer Sicht zu unterziehen. Die Leitfrage dieses panels lautet daher:

➢ Inwiefern wirken durch Digitalisierung veränderte Materialität und Raumzeitregime auf kritische und ermächtigende Formen des Lernens und Forschens, wie sie von Freire entworfen wurden?

Unterfragen dazu:

➢ Bewirkt Digitalisierung eine Enthumanisierung? Wie kann damit umgegangen, dass Kommunikation heute so häufig bereits eine Mensch–Maschinen–Mensch-Kommunikation ist?
➢ Wie wirken sich die Möglichkeiten der Kontroll- und Herrschaftsmechanismen aus, die mit digitalen Medien in neuartiger und umfassender Form realisiert werden?
➢ Welches Potential liegt umgekehrt in diesem Prozess? Können bestimmte Medientechnologien im Sinne freireanischer Pädagogik fruchtbar gemacht werden?
Gibt es Beispiele von Gemeinschaften, die digitale Medien zur Selbstermächtigung nutzen? Lassen sich Freireanische Überlegungen in digitale Medienformate übertragen?
Welche radikal unabhängigen und selbstermächtigenden Kulturtechniken gibt es? Wie gehen Freire und die Schaffung von alternativen Infrastrukturen zusammen?
➢ Wie kann mitreflektiert werden, Was bedeutete es, dass eine wesentliche Triebfeder der digitalen Transformation kapitalistische Ausbeutungs- und Verwertungsprozesse sind? Wie wirkt sich dieser Umstand auf das Fruchtbar machen digitaler Umwelten für kritische und ermächtigende Formen des Lernens und Forschens aus?
➢ Que fazer? (ein Titel Paulo Freires, gem. mit Adriano Nogueira) Was also können, was sollen und müssen wir (wer eigentlich?) tun?

Inhaltlicher Hintergrund:

Ambivalente Entwicklungen

Die Digitalisierung der Lebenswelten stellt sicherlich eine der größten Veränderungen gegenüber der Zeit, in der Freire lebte, dar. Digitalisierung hat unseren Alltag in vielerlei Hinsicht verändert, und dies sicherlich nicht nur im wohlhabenden Weltregionen. Mit “Digitalisierung“ ist ein diffuser Meta-Prozess gemeint: weniger die Digitalisierung von Filmen auf VHS-Kassetten, sondern gesamter Lebenswelten, die sich als digitale Kulturen entfalten. Es ist damit auch deutlich mehr als die unveränderte Verlegung „analoger“ Formate in den „virtuellen“ Raum gemeint.

Die digitale Verfasstheit gegenwärtiger Gesellschaften ist in unterschiedlichem Maße ausgeprägt, wodurch sich aus polit-ökonomischen Gründen eine starke Beschleunigungsdynamik hin zur Digitalisierung aller Lebenswelten entfaltet hat. Denn Digitalisierung gilt als Hoffnungsfeld für Wirtschaftswachstum und „Versäumnisse“ lassen Wettbewerbsnachteilen befürchten. Zu diskutieren ist, ob Wachstum durch Digitalisierung den Maximen der nachhaltigen Entwicklung zuträglich ist oder ein nicht-nachhaltiges Gesellschaftsmodell fortführt. Insofern sind dabei auch politökonomische Interessen und Gender-Verhältnisse zu thematisieren. Ob Digitalisierung menschenwürdige Arbeit schafft oder vernichtet, ist eine weitere zentrale Frage.

Weitreichender Wandel

Digitale Kulturen formieren sich durch die Allgegenwart digitaler Medientechnologien. Sie prägen Menschen und Gemeinschaften in einer Art, die weit über die Anwendung digitaler Apparaturen und Daten hinausgeht. Sie formen unsere Art und Weise, in der Welt zu sein – unsere Art zu kommunizieren, zu informieren, zu lernen, zu forschen, unsere Wahrnehmung und Gestaltung von Welt und Selbst. Damit verändern sich soziale Strukturen sowie Formen und Prozesse von Zusammensein und Kommunikation, Organisation und Arbeit, Macht und Selbstermächtigung – Realitäten, die auch von den Sustainable Development Goals (SDG-Ziel Nr. 8) adressiert werden.

 

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