Transdisziplinär und nachhaltig: Universität nach Lüneburger Art I.

Von 31. August bis 08. September 2015 fand an der Leuphana Uni in Lüneburg die Summer School zum Thema Transdisziplinarität an der Schnittstelle Wissenschaft/Gesellschaft statt. Nadine Mittempergher vom Paulo Freire Zentrum führe vorab ein Interview mit der Organisatorin Ulli Vilsmaier über Nachhaltigkeit, Transdisziplinarität und das, was sie an ihrer Arbeit begeistert.Freire Zentrum: Ich bin ja erst seit kurzem hier und habe bestimmt einen selektiven Blick, aber mir ist aufgefallen, dass es in Lüneburg sehr viele Projekte und Initiativen in Richtung Nachhaltigkeit gibt. Warum ist Lüneburg so Öko?

Vilsmaier: (lacht) Das ist in der Tat eine sehr scharfe Beobachtung. Ich habe mir eine ähnliche Frage auch gestellt, als ich von Salzburg nach Lüneburg gekommen bin. Und ich habe gelernt, dass durch die Nähe zum Standort Gorleben, die Antiatombewegung hier ja schon vor über dreißig Jahren sehr um sich gegriffen hat. Damit verbunden war eine starke Sensibilisierung für Ökologiethemen im weitesten Sinne. Auch in Lüneburg selbst gab es in den vergangenen Jahrzehnten schon immer wieder Protestbewegungen gegen Atommülllager in der Region und ich denke, das ist ein Grund, der so eine gewisse Strahlkraft für ökologische Themen mit sich brachte. Hier an der Leuphana-Universität erfolgte 2008 im Zuge der Fusion einer Fachhochschule mit der Universität eine Neuausrichtung. Durch personelle Konstellationen konnte auch hier das Thema Nachhaltigkeit stark in den Vordergrund gebracht werden. Zum Beispiel Gerd Michelsen, der hier eine Professur für Umweltkommunikation hat; oder Ute Stoltenberg, die für Umweltbildung schon in den späten 80er-Jahren tätig war. Und dann eben auch ein sehr junger Präsident, der sich von den Fakultäten eben dahingehend auch hat beraten lassen. Das Thema Nachhaltigkeit wurde also als ein Thema, das auch eine institutionelle Verankerung braucht, aufgenommen. Zwischen der hohen Sensibilisierung in der Gesellschaft und der Uni gab es eine Art Ping-Pong-Effekt. 2010 hat sich Lüneburg dann im Rahmen einer Städteinitiative des Rats für nachhaltige Entwicklung in einem Vertrag explizit der Nachhaltigkeit verschrieben.

Freire Zentrum: Hat diese Entwicklung der Leuphana auch zu einer gewissen Transdisziplinarität geführt? Oder kochen die Stadtverwaltung, die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft jeweils ihr eigenes Süppchen?



Vilsmaier:
Seit der Neuausrichtung 2008 und der Gründung der Fakultät für Nachhaltigkeit, aber auch mit dem Innovations-Inkubator, der viele Geschehnisse prägte, wurde sehr vieles auch in die Realität umgesetzt. Einmal kooperative Projekte zwischen der Universität und der Stadt. Dann gibt es sehr viele verschiedene Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Institutionen, also vorwiegend NGOs, aber auch mit Schulen. Hier versucht man tatsächlich über mögliche Praxisphasen oder Praktikaschienen, z.B. in der LehrerInnenausbildung, hinauszugehen und auch tatsächlich transdisziplinäre Forschung zu betreiben. Zum Beispiel im Masterstudium Nachhaltigkeitswissenschaft, wo die Studierenden ein Jahr lang ein transdisziplinäres Projekt durchführen.

Freire Zentrum: Kannst du ein besonders gelungenes Projekt nennen?

Vilsmaier: Ja, da fällt mir gleich das Projekt „Lünesco“ ein. Das ist ein Label, das von Studierenden kreiert wurde. Es läuft jetzt seit mittlerweile fünf oder sechs Jahren als transdisziplinäre Projektserie, die immer wieder einen neuen Fokus hat, und die speziell an der Schnittstelle zwischen Hansestadt Lüneburg und der Fakultät für Nachhaltigkeit angesiedelt ist. Der erste Jahrgang von „Lünesco“ hat beispielsweise gemeinsam mit der Stadt den Bedarf erarbeitet, eine/n NachhaltigkeitskoordinatorIn für die Stadt zu installieren. Als Folge dieses studentischen Projekts hat tatsächlich der Bürgermeister von Lüneburg einen Nachhaltigkeitskoordinator eingestellt. Das hat natürlich die Kooperation zwischen Universität und Stadt gestärkt. Seither wurden zahlreiche Projekte in Richtung Partizipation durchgeführt, speziell eben auch von eher marginalisierten Bevölkerungsgruppen und Jugendlichen. Es wurden aber auch Nachhaltigkeitsindikatoren für die Verwaltung erarbeitet. Aktuell sind wir mit der Stadt gemeinsam an einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt, wo wir mit Erstsemesterstudierenden Visionen für ein nachhaltiges Lüneburg in unterschiedlichen Themenbereichen entwickeln.

Freire Zentrum: Mir ist in Österreich so etwas nicht bekannt. Was kann man in Österreich von Lüneburg lernen?

Vilsmaier: Lernen kann man immer. Im Speziellen aber, dass hier eine Universitätsleitung und ein Teil der Fakultätsmitglieder unterschiedlicher Fakultäten die Entscheidung getroffen haben, tradierte Strukturen aufzubrechen. Um tradierte Strukturen aufzubrechen, gerade über Fakultäts- oder Institutsgrenzen, die sich über Jahrzehnte herausgebildet haben, braucht es natürlich sehr viel Mut, persönliche Bereitschaft aber auch einen institutionellen Rahmen. Man wollte an meiner Herkunftsuniversität, an der Universität Salzburg, auch Mitglieder aus verschiedenen Instituten oder Fakultäten dazu bringen, interfakultär zu arbeiten und das auch institutionalisieren. Jedoch ist so ein Vorhaben immer mit großen Mühen verbunden, weil dieser Wunsch von oben, also vom Rektorat, unter Umständen nicht systematisch ausgeprägt ist. Und es braucht auch eine kritische Masse, die bereit ist, an der Identitätsbildung auf der professionellen Ebene mitzumachen. Das ist aber leider schwer, wenn der inneruniversitäre Ressourcenkampf so groß ist und nicht zulässt, dass man sich einfach mal ein Stück weit zurücklehnt und offen für Neues ist. Aber das Zusammenspiel zwischen einem bejahenden und fördernden Präsidium und einer kritischen Masse, die bereit ist, sich an der Identitätsbildung zu beteiligen, ist, glaube ich, so ein bisschen ein Geheimrezept. Natürlich hatten wir es hier in Lüneburg auch mit sehr begünstigten Bedingungen zu tun. Ich hatte vorhin die Fusion erwähnt, eine Fusion ist immer ein Moment, wo Neues passieren kann. Und wir sind eine kleine Universität mit knapp 8.000 Studierenden. Wir haben auch keine der ganz großen Fakultäten wie Jura oder Medizin, sondern Nachhaltigkeitswissenschaft, Kulturwissenschaft, Bildung und Wirtschaft und da gibt es natürlich auch eine größere Wendigkeit.

Freire Zentrum: Trotz der institutionellen Grenzen in Österreich hast du es aber geschafft, die Global Studies in Salzburg mit zu begründen.

Vilsmaier: Ja, in der Tat! Das ist allerdings auf einer Ebene angesiedelt, die leichter umzusetzen ist, zumal es auf der Ebene eines Studienprogramms angesiedelt ist. Für mich war das damals eine gute Schule, ja. Sowohl Institutionalisierungsprozesse, wenn auch „nur“ auf Studienprogrammsebene, interfakultär umzusetzen, als auch die Wendigkeit zu erlangen, mit einem Theologen, einer Erziehungswissenschaftlerin, Mathematiker usw. zusammen zu arbeiten.

Freire Zentrum: Da wären wir ja schon bei der Transdiszipliniarität oder zumindest Interdiszipliniarität. Du koordinierst ja auch die Summer School für Transdisziplinäre Forschung. Was ist eigentlich schlecht an Forschen in Disziplinen?

Vilsmaier: Nichts, denn es geht nicht um ein Besser oder Schlechter, sondern es geht darum, für entsprechende Aufgaben die entsprechende Forschungsform zu wählen. Dass wir heute so eine Atmosphäre erzeugen, als wäre Inter- oder Transdisziplinarität per se besser, das ist meiner Einschätzung nach schlichtweg einem gewissen Hype geschuldet. Aber jeder und jede, der oder die sich mit Wissenslandschaften und Wissensproduktionsprozessen beschäftigt, wird sofort sehen, dass es eben, genauso wie es Methoden gibt, die einer Art Gegenstandsangemessenheit bedürfen, oder Gegenstände, die angemessene Methoden bedürfen, eben auch Forschungsthemen, -felder, Problemstellungen, Herausforderungen gibt, die unterschiedlicher Forschungsformen bedürfen. Und gerade wenn wir es mit Nachhaltigkeitsfragestellungen zu tun haben, die gesellschaftlich virulent sind, die nicht bloß epistemische Ziele oder epistemische Interessen repräsentieren, sondern tatsächlich einen Handlungsbedarf, einen Transformationsbedarf implizieren, ist eben eine Form transdisziplinärer Forschung eine, die sich an vielen Stellen anbietet.

Freire Zentrum: Aber ist das Denken in Disziplinen nicht schuld an der Nachhaltigkeitskrise?

Vilsmaier: Tja, da würde ich durchaus ein Stück weit ja dazu sagen. Jürgen Mittelstraß hat das sehr schön beschrieben, diese Krise der Fragmentierung, die gewissermaßen eine Art des Wissens hervorbringt, die ganz wesentlich unser Leben im Alltag bestimmt. Und diese Fragmentierung setzt sich dann eben in der Art zu leben fort, der Art zu verwalten, der Art zu produzieren oder über Produktion, Produktionsentwicklung nachzudenken und so weiter. Also insofern ja, da gibt’s einen ganz engen Zusammenhang.

Hier geht’s zum zweiten Teil des Interviews.



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Zur Person:


Ulli Vilsmaier arbeitet als Juniorprofessorin für Transdisziplinäre Methoden am Institut für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung (IETSR) der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte umfassen epistemologische und methodologische Grundlagen sowie Methoden inter- und transdisziplinärer Forschung. http://www.leuphana.de/ulli-vilsmaier.html 

Veröffentlicht in Entwicklungsforschung, Themen.