Warum wir einen 100 Jährigen in der Schule brauchen: Reflexionen am Ende eines Lehramtsstudiums.

Als einer von etwa 5 000 jungen Menschen, die derzeit ein Lehramtsstudium an der Universität Wien absolvieren, fragt sich der Autor dieser Zeilen, warum er in den acht Semestern seines Studiums noch nie etwas von Paulo Freire gehört hat. Denn neben einer Kombination aus zwei Unterrichtsfächern erhalten die Studierenden auch eine pädagogische Ausbildung auf ihrem Weg zum Bachelorabschluss, die sie laut Curriculum dazu befähigen soll, „sich mit zentralen Fragen des Lehrens und Lernens (…) kritisch auseinanderzusetzen und dazu begründet Position zu beziehen“.

Insbesondere diese als Ausbildungsziel formulierte kritische Perspektive auf Bildung legt nahe, das am dritthäufigsten zitierte Buch der Sozialwissenschaften, die Pädagogik der Unterdrückten Paulo Freires, in die Curriculumgestaltung einzubeziehen. Mit eindrucksvoller Klarheit legt Freire darin dar, dass Bildung in vielen Fällen der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen dient und nur unter bestimmten Voraussetzungen zu einem Instrument der Befreiung werden kann. Tatsächlich findet weder dieses Schlüsselwerk der kritischen Pädagogik, noch Freire selbst in den Vorlesungen der pädagogischen Ausbildung für angehende Lehrer*innen Erwähnung.

Eine Ursachenforschung.

Während soziale Bewegungen und kritische Wissenschaftler*innen im vergangenen Herbst den 100. Geburtstag von Paulo Freire als einen der bedeutendsten Impulsgeber für transformative Bildung feierten, fehlt es einer Lehrer*innenbildung, die Schule getrennt von sozio-ökonomischen Dynamiken betrachtet, an Anknüpfungspunkten zu seinem Denken. Denn eine freireanische Konzeption von Bildung muss auch eine Kritik der realen Unterdrückung beinhalten, in der die Menschen leben, etwa indem sie gewisse Bildungswege ob ihrer sozialen Herkunft nur sehr erschwert verfolgen können. Eine Lehrer*innenbildung, die sich zuallererst als Berufsausbildung versteht und allein Kompetenzen für den Schulalltag vermitteln will, versagt jedoch in einem für Freire zentralen Punkt: der kritischen Analyse gesellschaftlicher Machtmechanismen. Dies ist insbesondere in einem Schulsystem wie dem österreichischen, das Ungleichheit verstärkt statt bekämpft, ein schwerwiegendes Problem.

Die Befreiungspädagogik dagegen nimmt sich die Bewusstwerdung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zum Ausgangspunkt für ihre erzieherischen Bemühungen, und ist dabei gleichermaßen ein Instrument für Lehrende wie für Lernende: Denn sie setzt sich das Ziel, Lernende zu ermächtigen, die eigenen Lebensbedingungen zu verstehen und sich selbst als ein menschliches Wesen und Subjekt des eigenen Lernprozesses zu erfahren. Diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit motiviert sie dazu, sich die kulturellen Techniken zur Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen anzueignen, und sich für eine Veränderung der Welt, für die Überwindung von Unterdrückung einzusetzen. Doch auch die Lehrenden müssen sich in einem emanzipatorischen Bildungsverständnis ihrer Rolle bewusst werden: Üben sie ihre pädagogische Arbeit im Interesse der Unterdrückten oder der Unterdrücker*innen aus?

Politische und apolitische Vorstellungen von Bildung.

Diese Auseinandersetzung mit der eigenen Positionierung in einer Gesellschaft, die von Ungleichheit geprägt ist, führt zu einer Politisierung aller Teilnehmer*innen des Lernprozesses, weshalb Freire auch nie müde wurde, auf die politische Natur von Bildung hinzuweisen. Denn wenn Lehrende sich mit Verweis auf den vermeintlich apolitischen Charakter ihres Unterrichts weigern, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zur Sprache zu bringen, stützen sie damit eine Gesellschaftsordnung, die Unterdrückten wie auch ihren Unterdrücker*innen die vollständige Humanisierung verwehrt.

Doch gerade das große Thema der politischen Natur von Bildung ist im Lehramtsstudium praktisch nicht vorhanden. Für Freire ist Bildung keineswegs eine neutrale Heilsbringerin, die sich in den Dienst aller Menschen gleichsam stellt. In einer Gesellschaft, in der, wie Freire analysiert, Herrschaft, Aggression und Gewalt ein intrinsischer Teil beinahe aller sozialen Interaktionen sind, muss der Politikbegriff breit angelegt werden. Politisch sind nicht nur die Vorgänge in öffentlichen Institutionen, sondern alle Aspekte des menschlichen Lebens, die von Macht geprägt sind. Race, class und gender können selbstverständlich nicht am Schultor abgelegt werden, und diese mit Bedeutung aufgeladenen Aspekte unserer Existenz, die als Katalysatoren für Unterdrückung wirken, machen es erforderlich, dass man sich als Lehrende*r entscheiden muss: Für wen übe ich meinen Beruf aus?

Methoden oder Einstellungen?

Tatsächlich wird diese grundlegende Frage nach der Positionierung der Lehrperson im Rahmen des Studiums jedoch nie gestellt. Von angehenden Lehrkräften wird erwartet, Kompetenzen für den Berufsalltag zu erwerben, anstatt ein Bewusstsein über die Ausbeutung und die mangelnden Partizipationsmöglichkeiten eines Großteils ihrer Schüler*innen zu entwickeln. Freire selbst schreibt über seine Arbeit im Rahmen eines Alphabetisierungsprogrammes im Nordosten Brasiliens, dass es viel einfacher sei, den in der Initiative tätigen Lehrer*innen Methoden beizubringen, als in ihnen eine kritische Einstellung zu entwickeln. Doch Bildung kann, so Freire, wenn sie unkritisch auf die Anpassung der Menschen an gegebene gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse abzielt, zu einem Instrument der Domestikation werden. Er hat auch oft betont, dass er keine Methoden entwickeln und an angehende Pädagog*innen weitergeben würde, sondern dass sich die Methoden vielmehr aus den Einstellungen zur Pädagogik ergeben würden. Eine Lehrer*innenbildung, die vor allem auf das Erlernen von Methoden setzt, ohne sich die Zeit für kritische Reflexion und transformative Aktion zu nehmen, kann trotz innovativer Techniken keine Befreiung von Unterdrückung bewirken.

Die ungebrochene Tendenz zur Neoliberalisierung von Bildung.

Die emanzipatorischen Ideen aus dem globalen Süden treffen in Österreich auf ein Klima, das von einer konservativen Lehrer*innengewerkschaft und von einem Schulsystem geprägt ist, das die Anpassung junger Menschen an technologische und ökonomische Entwicklungen in den Vordergrund rückt und dabei sozio-ökonomische Ausgrenzungsmechanismen in der Gesellschaft verstärkt. Der letzte nationale Bildungsbericht von Dezember 2021 zeigt es klar auf: In der AHS-Unterstufe beträgt der Anteil von Kindern aus Akademiker*innenfamilien 50 Prozent, der von Eltern mit maximal einem Pflichtschulabschluss nur drei Prozent.

Paulo Freire glaubte daran, mit Bildung die Gesellschaft verändern zu können. Doch offenbar soll zumindest die Schulbildung in Österreich vor allem zur Aufrechterhaltung einer Klassengesellschaft beitragen, in der Bildungschancen und damit Einkommen und Partizipationsmöglichkeiten vererbt werden. Im Vordergrund steht dabei die Inwertsetzung des Humankapitals, das Schüler*innen und auch Studierende darstellen würden. Denn die Ausbildung jener Menschen, deren Beruf es sein wird, Bildung zu vermitteln, ist trotz der grundlegenden Bedeutung, die diese Aufgabe für die Zukunft einer demokratischen Gesellschaft annimmt, nicht an einer Überwindung der Bildungsungleichheit orientiert. Im Gegenteil: Das Curriculum des Lehramtsstudiums der größten Universität des Landes lässt nur wenig Hoffnung auf eine Befreiung jenes großen Teiles der Bevölkerung zu, der von der Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes weitgehend ausgeschlossen ist. Wie Freire treffend analysiert hat, sind solche Personen Teil der großen Gruppe von Unterdrückten, die den Grund ihres Schmerzes in ihrer vermeintlichen Unzulänglichkeit und nicht in der Perversion des sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Systems wahrnehmen. Und solange sie sich so fühlen, denken und handeln, verstärken sie die Macht des Systems, indem sie selbst zu einem Teil der unmenschlichen Gesellschaftsordnung werden.

Für mehr Freire.

Eine der vordringlichsten Aufgaben für eine emanzipatorische Lehrer*innenbildung wäre also, den zukünftigen Lehrpersonen diese Mechanismen bewusst zu machen. Für Paulo Freire war Bildung immer mit dem Ziel der gesellschaftlichen Demokratisierung und der Humanisierung des Menschen verbunden. Eine Auseinandersetzung mit seinen Ideen würde Lehramtsstudierenden die Möglichkeit bieten, sich mit der gesellschaftspolitischen Bedeutung des von ihnen angestrebten Berufes zu beschäftigen, und ihren zukünftigen Schüler*innen damit eine echte Chance auf Befreiung einräumen.

 

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Titelbild © flickr, all creative commons. „Estudiante Despierta“ bedeutet „Student*in, wach auf!“. Dieser Slogan wurde in Spanien von der sozialen Bewegung des 15-M benutzt, die sich für mehr demokratische Partizipation einsetzte.

Veröffentlicht in Paulo Freire, Bildungsungerechtigkeit.