Hunger: Wie kann das Menschenrecht auf Nahrung durchgesetzt werden?

Die Zahl der von Hunger betroffenen Menschen ist im Jahr 2021 auf 828 Millionen gestiegen. Beschleunigt wurde dieser Anstieg unter anderem durch die Covid-19-Pandemie. Das Ziel, „Kein Hunger“, das im SDG 2 (Sustainable Development Goal, dt. Nachhaltiges Entwicklungsziel) verankert ist und bis 2030 erreicht werden soll, rückt damit in weite Ferne.

Jedoch steht fest, Hunger ist vermeidbar. Er ist Resultat der ungleichen globalen Verteilung von Macht und Reichtum. Das bedeutet, dass Hunger aufgrund politischer und wirtschaftlicher Weichenstellungen hervorgerufen wird und NICHT darauf zurückzuführen ist, dass es ungenügend Nahrung für alle Menschen gäbe. Was läuft also schief?

Am 20. Oktober wurde im C3 – Centrum für Internationale Entwicklung der Thematik auf den Grund gegangen. Im Rahmen der Veranstaltung „Food for all? – What it takes to secure global supplies with nutrition and basic needs” (dt. Nahrung für alle? – Was braucht es, um die weltweite Versorgung mit Nahrungsmitteln sowie die Grundbedürfnisse aller sicherzustellen) sprach Jomo Kwame Sundaram über das weltweite Ernährungssystem. Der malaysische Wirtschaftswissenschaftler war ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der Vereinten Nationen für wirtschaftliche Entwicklung. In seiner Präsentation ging er auf die unterschiedlichen Gesichter des Hungers ein und lieferte am Ende politische Handlungsimplikationen.

Die Grundlagen: Eine problematische Definition.

Ab wann ist nun jedoch von Hunger die Rede? Sundaram verweist darauf, dass die definitorischen Grenzen hier eng gezogen seien. Chronischen Hunger erleide in der offiziellen Definition der Vereinten Nationen eine Person erst dann, wenn sie bereits einen Zustand dauerhafter Unterernährung erreicht habe. Aus dieser Definition fielen allerdings drei Viertel der Hungernden weltweit. Obwohl sie auf dem Land leben und selbst Nahrungsmittel produzieren, verfügen sie erst zu den Erntezeiten kurzfristig über genügend Nahrung, so der malaysianische Wirtschaftswissenschaftler. Damit würden sie jedoch nicht zu jener Gruppe Menschen zählen, die über ein ganzes Jahr von einer zu geringen Kalorienaufnahme betroffen seien. Hunger werde demnach oft unterschätzt. Zudem sei nicht außer Acht zu lassen, dass bereits mehrere Kontinente von der Krise betroffen seien.

Herausforderungen und Ambivalenzen innerhalb des Ernährungssystems.

Hunger oder Fehlernährung sei viel mehr, als nicht genügend Kalorien zum Leben zu sich nehmen zu können, so Sundaram. Im Diskurs um Hunger sollten ernährungsbedingte Krankheiten ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. Die Rede ist hier von Krankheiten wie Rachitis, die teils irreversible Entwicklungsstörungen durch einen Nährstoffmangel hervorrufen. Wer sich etwa fast ausschließlich von Getreide ernährt und dabei genügend Kalorien zu sich nimmt, gilt nicht als von Hunger betroffen, obwohl diese Personen nicht genügend Nährstoffe aufnehmen können.

Die Kehrseite von Hunger liefere weitere Krankheitsbilder. Darunter falle hauptsächlich Übergewicht bis hin zu Adipositas, wovon 1,9 bis 2,2 Milliarden Menschen weltweit betroffen seien. Eine Krankheit, die meist durch den exzessiven Verzehr von zucker- und / oder salzhaltigen Nahrungsmitteln hervorgerufen werde. Im Endeffekt könnten die negativen Auswirkungen dieser Krankheiten auf denselben Nenner wie die des Hungers sowie der Fehlernährung gebracht werden. Der Dreh- und Angelpunkt sei das Ernährungssystem. Viel Geld würde in die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten fließen, das ebenso gut für die Verbesserung des Ernährungssystems herangezogen werden könnte. Die Lösung, laut Sundaram, wäre nicht weniger, aber dafür abwechslungsreichere Nahrung zu kultivieren. Zudem brauche es dringend einen rechtlichen Rahmen, der das Recht auf Nahrung für alle sichert.

Säulen der Hungerskrise.

Die strukturellen Ursachen von Hunger liegen zu einem großen Teil in der Architektur des Weltwirtschaftssystems begründet: So hätten sich laut Sundaram die „Terms of Trade“ (dt. Reales Austauschverhältnis: Verhältnis der Preise, die ein Land für Importe zahlt und für Exporte erhält) für die meisten Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen in den letzten Jahren verschlechtert und wieder das Niveau von 2012-2014 erreicht.

Der seit 2019 erfolgte dramatische Anstieg des Hungers sei jedoch auch von weiteren Faktoren befeuert worden: enorme Preisschwankungen auf den Rohstoff- und Energiemärkten, Dürren in weiten Teilen Afrikas sowie Versorgungsengpässe bei Düngemitteln und Getreide durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Ferner unterstreicht Sundaram die Problematik der Stagflation, was bedeutet, dass das Wirtschaftswachstum stark eingeschränkt ist und gleichzeitig das Geld an Wert verliert. Das Resultat davon ist, dass die Kaufkraft sinkt. Auf die Hungerskrise bezogen, werden durch die Stagflation die Lebensmittelpreise immer teurer und weniger Menschen können sich Nahrung leisten.

Aufgrund der wirtschaftlichen Herausforderungen sieht Sundaram insbesondere die Regierungen in der Verantwortung, aktiv gegen Hunger vorzugehen. Regierungsinitiativen könnten sich auf die Verbesserung der Infrastruktur stützen, um damit die Lebensmittelverluste zu reduzieren und die Lebensmittelsicherheit zu verbessern. Eine weitere Maßnahme könnte die Verbesserung der Aussaat-, Ernte- und Nachernteverfahren der Landwirt*innen ins Visier nehmen. Denn weltweit würden 30 Prozent der Lebensmittel verloren gehen, bevor sie konsumiert werden könnten. Von dieser Problematik sei vor allem der Globale Süden betroffen.

Dringender Handlungsbedarf.

Akut müssten daher die Länder unterstützt werden, die Nahrungsmittel importieren, etwa in Form eines Schuldenerlasses. Weiters sollte gegen Rohstoffspekulationen vorgegangen werden, indem Markt- und Eigentumstransparenz erhöht werden. Zudem forderte Sundaram, die nationalen und regionalen Getreidereserven zu verbessern und damit in Zeiten von Ernährungsunsicherheiten unter anderem schneller reagieren zu können. Nicht zuletzt appelliert er, die Nahrungsmittelproduktion zu diversifizieren.

Auf den Punkt gebracht – Beitrag von Sofía Monsalve Suarez (Generalsekretärin von FIAN International).

In ihrem Kommentar auf den Vortrag von Sundaram konzentrierte sich Sofía Monsalve Suarez ebenfalls auf das globale Ernährungssystem. Es müsse von Grund auf verändert werden, um wieder lokale Kapazitäten zur Nahrungsmittelproduktion und –verteilung aufzubauen. Denn hinter dem Ziel, dem weltweiten Bedarf gerecht zu werden, stecke die Grundannahme, dass Globalisierung an sich in einer gewissen Weise gut sei. Vor allem im Zuge der Strukturanpassungsprogramme der 1980er Jahre seien die Länder des globalen Südens gezwungen worden, sich einen komparativen Vorteil zu verschaffen und somit auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu sein. Genau an dieser Stelle liege jedoch das Hauptproblem: Es seien eher Möglichkeiten zur Ernährungssicherung zerstört worden, indem viele Länder dem neoliberalen Leitbild und dessen Wirtschaftsvorstellungen gefolgt seien, und somit zahlreiche Institutionen privatisiert wurden. Ernährungssysteme seien dadurch abhängig von globalen Lieferketten geworden und der Aggressionskrieg Russlands auf die Ukraine habe gezeigt, wie anfällig ein auf derart vernetztes System sei.

“Die globale Wirtschaftsarchitektur ist der Inbegriff von Ungerechtigkeit“, brachte es die FIAN-Generalsekretärin auf den Punkt. In diesem System bereicherten sich wenige auf Kosten vieler. Ungleichheit, Vermögens- und Landkonzentration seien die Auswirkungen davon. Insbesondere in Bezug auf die Landkonzentration sei problematisch, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft kurz vor dem Aussterben stehe.

In ihrem Kommentar zu Sundaram verwies sie ebenfalls auf das Patriarchat, auf das der Ökonom zu wenig eingegangen sei. In etlichen Ländern seien es Frauen, die sich für die Landwirtschaft verantwortlich zeichneten. Zudem nähmen sie sich meistens auch der reproduktiven Arbeit an. Suarez kritisierte dies als Ausbeutung im doppelten Sinne.

Am Schluss forderte sie, die ökologische Zerstörung aufzuhalten und die biologische Diversität zu schützen. Es brauche verschiedene landwirtschaftliche Strategien, um Nahrung zu sichern. Das Hauptaugenmerk solle dabei auf Strategien liegen, die fruchtbare Böden NICHT ausbeuten und Luft und Wasser sauber halten.

 

Die Autorin ist Praktikantin im Paulo Freire Zentrum. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at.

Weiterführende Links:

Food and Agriculture Organization of the United Nations (2022): The State of Food Security and Nutrition in the World
World Food Programme (2021): Die 5 Stufen von Ernährungssicherheit zur Hungersnot.
World Food Programme (2022): UN-Bericht
Unicef (2022): Hungersnot, Ernährungskrise, Mangelernährung – Was ist das?

 

Titelbild © Pixabay, creative commons

Veröffentlicht in Entwicklungspolitik, Globale Ungleichheiten, Gutes Leben für Alle, Genderungerechtigkeit.