Nachhaltige Entwicklung – ein eurozentristisches Konzept?

Postkoloniale Perspektiven auf eine nachhaltige Entwicklung fordern die Annahme „Bildung ist gleich soziale Mobilität“ heraus. Kann das Bildungssystem von innen heraus verändert werden? Oder stoßen kritische Pädagog*innen an institutionelle Grenzen?

Wie man mit postkolonialen Ansätzen über Bildung und Entwicklung denken kann, war Thema eines Workshops mit dem Titel „Postkoloniale Perspektiven auf das Bildungs-, Nachhaltigkeits- und Entwicklungs-Paradigma“. Die Österreichische Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE) lud dazu am 29. November 2019 ins C3 – Centrum für Internationale Entwicklung.

Kolonial und postkolonial: Bildung ist beides.

Margarita Langthaler, Senior Researcher der ÖFSE, wies in ihrem Eröffnungsstatement auf die doppelte Funktion von Bildung hin: Bildung ist ein Instrument, das den Geist von Lernenden „kolonialisiert“ – und zugleich ein Mittel, um koloniale Ideologien zu hinterfragen.
Inputs von Leon Tikly, Professor für Bildung insbesondere in afrikanischen Ländern südlich der Sahara an der Universität Bristol, und Miša Krenčeyová, Lehrende an den Instituten für Afrikawissenschaften und Internationale Entwicklung der Universität Wien, inspirierten die Teilnehmer*innen im anschließenden Weltcafé, ihre eigenen Erfahrungen zu diskutieren und Lösungsansätze zu finden.

Bildung erhält Ungleichheiten.

Eine Kritik am Fortbestehen des kolonialistischen Systems dürfe sich nicht darauf beschränken, Systeme und Verhältnisse zu dekonstruieren. Ebenso müsse der Versuch gemacht werden, alternative Systeme aufzubauen, so Tikly.
Das Bildungssystem sei als komplexe Einheit anzuerkennen, die mit anderen Systemen in Verbindung steht. Systematisch afrikanische Formen von Wissen in Klassenzimmern und Lehrplänen geringzuschätzen, sei genauso Teil des postkolonialen Systems wie Natur auszubeuten. Beides hat mit dem Kolonialismus und Kapitalismus Einzug in afrikanische Staaten gehalten.

Verschiedene Wissensformen zulassen.

Bildung stellt in diesem komplexen System ein wesentliches Element dar, das politische und soziale Ungleichheiten aufrechterhält.
Aber es gibt auch Handlungsfelder, die bestehende Systeme ins Wanken bringen können. Dazu ist es nötig, die Hegemonie westlicher Formen des Wissens und kolonialer Sprachen zu durchbrechen und auch indigenes Wissen, also Wissensformen, die in den Lebensrealitäten von Personen aus dem Globalen Süden verankert sind, in Praktiken und Lehrpläne miteinzubinden.

„Wir können die Struktur mit-kreieren.“

Wie kann kritisches Denken, also das Vermögen, hinter gegebene Konzepte und Systeme zu schauen, in den Klassenraum gebracht werden? Lehrende sind immer wieder konfrontiert mit Widersprüchen, die sich zwischen ihren eigenen Vorstellungen einer postkolonialen Bildung und den gegebenen institutionellen Verhältnissen auftun, so Krenčeyová. In der Praxis sei es ihre Aufgabe, die Dekonstruktion mit der Rekonstruktion zu vereinen. Sie ist sich sicher: „Wir können die Struktur mit-kreieren“.

Kritisches Denken innerhalb stabiler Institutionen.

Sowohl Lehrende als auch Lernende werden von institutionellen Strukturen beeinflusst; beide haben gelernt, was erwünscht ist, und welche Ziele Bildung haben soll und kann. Ob der Aussicht auf einen Job, passen sich Schüler*innen an das System an, denn „kritisches Denken“, so die Vortragende, „ist keine erwünschte Fähigkeit bei Bewerbungsgesprächen“.
Wie können sich Lehrende, die kritisch bilden wollen, in einer Institution positionieren, ohne gleichzeitig deren Bestehen zu gefährden? Um diese Spannungsverhältnisse aufzuheben sind Räume nötig, in denen problematische Diskurse aufgezeigt und Schüler*innen die Möglichkeit gegeben wird, selbst zu handeln. Solche kritischen Ansätze dürfen allerdings nicht die „institutionelle Balance“ ins Wanken bringen. Es soll möglich werden, innerhalb dominanter Wissenssysteme zu lernen, und gleichzeitig gegen-hegemoniale Diskurse anzustoßen.

Sprachen im Klassenraum.

Sprache spielt eine wesentliche Rolle, um Ideologien in den Köpfen von Schüler*innen zu verankern. Wie ist es möglich, postkoloniale Sprachhierarchien zu überwinden, wenn es gleichzeitig nötig ist, die hegemoniale Sprache zu sprechen, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können? Um Sprachhierarchien zu überwinden, braucht es Ansätze des Trans-Languaging (dt. „über die Sprache hinaus“). Dabei werden die Vielfalt an Sprachen und Identitäten im Klassenraum als Ressource angesehen und kreativ eingesetzt.

Nachhaltigkeit als eurozentristisches Konzept.

Wie sieht eine postkoloniale Perspektive auf nachhaltige Entwicklung aus? Bildung kann auf die kolonialen Praktiken des Westens aufmerksam machen: etwa darauf, dass der Wohlstand des Globalen Nordens auf der Ausbeutung des Globalen Südens beruht.
Die Dekonstruktion postkolonialer Verhältnisse beginnt bei jeder/jedem selbst. Nachhaltigkeit an sich ist ein eurozentrisch geprägtes Konzept. Forscher*innen und Lehrende müssen sich also die Frage stellen, inwieweit sie mit ihrer Forderung über nachhaltige Entwicklung bestehende postkoloniale Strukturen aufrechterhalten.
Ein Anfang, um postkoloniale Verhältnisse zu dekonstruieren, wäre, Nachhaltigkeitskonzepte zu verstehen, die Nachhaltigkeit anders denken.

Die Autorin studiert Internationale Entwicklung an der Uni Wien und ist Praktikantin im Paulo Freire Zentrum. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at

Fotos © Luana Schäfer, Paulo Freire Zentrum.

Weiterführende Links:

Leon Tikly: “Education for Sustainable Development in the Postcolonial World”

BAOBAB: Globales Lernen

Sustainable Development Goals

Veröffentlicht in Bildungsungerechtigkeit, Entwicklungsforschung, Themen.