Bildung ohne Wert – Wider die Humankapitalisierung des Menschen

Was ist mit Bildung im Sinne der Herausbildung von Fähigkeiten zur (Selbst-)Reflexion und Selbstbefreiung nur geworden? Mit dieser Frage setzt sich der Bildungswissenschaftler Erich Ribolits in seinem Buch „Bildung ohne Wert – Wider die Humankapitalisierung des Menschen“ auseinander.

Erich Ribolits, Universitätsprofessor am Institut für Bildungswissenschaften an der Universität Wien, beschäftigt sich in seinen vielfachen Publikationen nun schon seit längerer Zeit mit der Entwicklung von Bildung. Sein 2009 erschienenes Buch „Bildung ohne Wert – Wider die Humankapitalisierung des Menschen“ regt zum grundsätzlichen Nachdenken über das vorherrschende Bildungssystem an. Obwohl es sich aus zum Teil bereits erschienen Einzelbeiträgen zusammensetzt und somit kein durchgehender Argumentationsfluss besteht, zieht sich ein roter Faden durch das Buch.

Marktkonforme Bildung.

In seiner kapitalismus- bzw. systemkritischen Analyse zeigt Ribolits auf, wie sich durch den technologischen Fortschritt und die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise auch die Konkurrenz unter „den Gebildeten“ zuspitzt. Mit dem Bolognaprozess werde der Handel mit Wissen auf die Spitze getrieben. In ganz Europa soll organisiertes Lernen vergleich- und abprüfbar sein und auf berechenbare Kompetenzen reduziert werden. Erklärtes Ziel des Bolognaprozesses sei es, Europa zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Damit, so Ribolits, wird aber auch deutlich, dass Bildungseinrichtungen keine Orte der Bildung von mündigen BürgerInnen darstellen, sondern lediglich als ideologischer Überbau im Marx’schen Sinne (den er des Öfteren zitiert) für die marktkonforme, kapitalistische Ausrichtung der Menschen fungieren. Das gesamte formalisierte Bildungssystem schließt damit Systemkritik quasi von Beginn an aus.

Bildung und Wissen als Ware.

Bildung ist also nicht erst im Neoliberalismus zur Ware geworden. Mit der allgemeinen Schulpflicht und durch die technisch-industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts, wodurch Wissen auch mit Aufstieg verbunden wurde, wurde Wissen zur Ware in einem Konkurrenzkampf, der dann als „Wettbewerb“ tituliert wird. Der Unterschied, der sich durch das Erstarken des Neoliberalismus ergab, liegt nun aber darin, dass Bildung heute nicht mehr nur „von außen“ zur Verwertbarkeit und Produktivitätssteigerung benutzt wird, sondern bereits Kinder zur freiwilligen Selbstausbeutung, zum ‚unternehmerischen Selbst‘, erzogen werden. Aus Lehrenden werden Lerncoaches, die dazu beitragen, dass Lernende lernen, ihre eigenen Stärken und Schwächen möglichst flexibel an den Markt anzupassen, anstatt ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten. Dadurch findet eine Entfremdung vom eigenen kritischen Bewusstsein statt – und zwar lebenslang. Um dieser Tatsache entgegen zu wirken, betont Ribolits die Notwendigkeit, dass Menschen ihr Wissen selbstreflexiv, und nicht nur zu ihrem eigenen Vorteil am Arbeitsmarkt, einsetzen. Er macht also nicht nur den Teufelskreis des kapitalistischen Systems (und den damit verbundenen Zeitdruck, der es uns immer schwerer macht, kritisches Bewusstsein überhaupt zu entfalten) für die Behinderung der freien Entfaltung des menschlichen Bewusstseins verantwortlich, sondern auch die Tatsache, dass Menschen dieses System akzeptieren. An dieser Stelle erinnert Ribolits an Gramscis Theorie der ‚kulturellen Hegemonie‘.

Mehr Selbstbestimmung und Mündigkeit durch Bildung.

Ribolits Fragestellung „wie möglichst viele Menschen durch Bildung zu mehr Selbstbestimmtheit und Mündigkeit gelangen könnten“, sowie das Ziel, den veränderten Stellenwert von Pädagogik und Bildung im technologischen und generell gesellschaftlichen Wandel herauszuarbeiten, sind recht breit angelegt. Obwohl er sich inhaltlich einige Male wiederholt, beleuchtet er in jedem einzelnen Kapitel neue, interessante Aspekte jenes Wandels. Gekonnt verknüpft er diese und stellt sie in einen größeren Zusammenhang. Besonders ansprechend ist, dass Ribolits gängige Begriffe und Konzepte, wie etwa „Wissensgesellschaft“,  „Bildungsqualität“, „Lebenslanges Lernen“ oder etwa „Bildung“ selbst, dekonstruiert, die dahinter verborgenen Interessen aufdeckt und ihnen eine neue Bedeutung gibt.

Sein Anliegen, eine Konkretisierung des Bildungsbegriffs vorzunehmen, ist ihm eindeutig gelungen. Er plädiert für eine Bildung, bei der die Entwicklung eines selbstbewussten, kritischen Bewusstseins im Vordergrund steht, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass die auf Profit basierenden politisch-ökonomischen Verhältnisse transformiert und selbst mitgestaltet werden können. So gesehen geht es ihm darum, die scheinbar in diesem profitorientierten System gefangenen Menschen wachzurütteln und aufzufordern, ihre Fähigkeit zum autonomen Reflektieren wahrzunehmen. Nur wenn der von Machtinteressen durchflutete Bildungsbegriff im historischen Kontext als wertlos begriffen wird, ist laut Ribolits eine Gesellschaftstransformation möglich. Gleichzeitig räumt er jedoch mit der Vorstellung auf, dass Bildung es vor dem Einzug des Neoliberalismus möglich gemacht habe, jene emanzipatorische Kraft – im Sinne menschlicher Emanzipation – zu entfalten. Ganz im Gegenteil handle es sich hier aus seiner Sicht nur um eine kleine Zeitspanne in der (westlichen) Geschichte.

Es fällt auf, dass Ribolits zwar die Internationalisierung des kapitalistischen Systems und die damit einhergehende, zunehmende Schwierigkeit für Nationalstaaten, ihre Bildungsysteme autonom zu gestalten, anspricht. Gleichzeitig bewegt er sich in seiner Analyse – trotz Bezugnahme auf den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire – hauptsächlich im europäischen Raum. Somit erwähnt er in seinem Buch nicht, dass zum Beispiel durch die Bildungsinitiativen der „Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerikas – Handelsvertrag der Völker (ALBA-TCP)“ alternative Bildungszugänge – zumindest im lateinamerikanischen Raum – geschaffen wurden und werden.

Alles in allem stellt das Werk jedoch einen äußerst wichtigen Beitrag im bildungskritischen Diskurs dar. Ein Werk, mit dem man sich als Studierende/r, der/die das bloße Auswendiglernen für Multiple-Choice-Prüfungen für sinnlos hält, gut identifizieren kann.

 

Die Autorin studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at

 



Ribolits, Erich (2009): Bildung ohne Wert – Wider die Humankapitalisierung des Menschen. Wien: Löcker Verlag. ISBN 978-3-85409-535-4

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